Dienstag, 17. Dezember 2019

Das Ting, Artur Dziuk


Das Ting ist eine coole App, die wir uns manchmal alle wünschen. Es hat Sensoren wie ein Fitnessarmband und sagt uns, ob wir dehydriert sind oder mal wieder Sport machen sollten. Es kann aber noch viel mehr. Es hilft dem Träger, Entscheidungen in allen möglichen Lebenslagen zu treffen und dabei unlogische Schritte zu vermeiden. Es ist eine Art Navigationssystem für das Leben. Wäre so eine Hilfe in unserem immer komplexer werdenden Alltag nicht praktisch?

Um das Ting entsteht ein Start-up Unternehmen in Berlin aus vier sehr unterschiedlichen Menschen. Die hochsensible Niu ist eine fabelhafte Programmiererin, die sich mit selbstlernenden Algorithmen auskennt. Linus kennt sich mehr mit der technischen Seite aus und weiß, wie Sensoren gebaut werden. Adam, aus einfachen Verhältnissen einer polnischen Einwandererfamilie kommend, weiß wie man Dinge vermarktet. Und Kasper, dessen Familie seit Generationen ein Consultingunternehmen führt, vertritt die kaufmännische Seite. Sie alle haben ganz unterschiedliche Motive, warum sie am Ting mitarbeiten.

Um das Ting in seiner Betaphase testen zu können, installieren die vier Gründer es bei sich und verpflichten sich vertraglich, jeder Empfehlung des Ting bedingungslos zu folgen. Jeder, auch in ganz privaten Zusammenhängen. Denn wie soll man sonst mögliche Bugs finden? Sie entwickeln das Ting technisch weiter, so dass seine Empfehlungen nirgends mehr abgelesen werden müssen, sondern vom Nutzer als innere Stimme in seinem Kopf gehört werden können. Jeder der vier reagiert völlig unterschiedlich auf das Ting. Und mancher fühlt sich, als sei er niemals mehr allein in einem Raum. Die Anwesenheit des Ting ist spürbar. Das kann sehr tröstlich sein, aber auch gespenstisch.
"Der Fahrtwind gleitet an seinem Helm ab und schlägt in seinen Anzug. Der Helm, der Muskelkater, die heimelige Wohnung - all das fühlt sich noch nicht richtig an. Sondern wie das Leben eines andern Menschen, in das er für eine abgesteckte Zeit schlüpft. Das wird er nicht im Blog erwähnen, denkt Adam. Denn das Gefühl wird nicht lang Bestand haben. Bald wird das sein gewohntes Leben sein, als hätte es nie ein anderes gegeben. Stattdessen soll der Blog- Artikel den aktuellen Zustand mit den ersten Tagen des Beta-Tests kontrastieren." (S. 217)

Dieser packende Roman ist von unserer technischen Realität nur einen winzigen Schritt entfernt. Niemand findet es mehr seltsam, seine Pulsfrequenz von einem Armband abzulesen oder vom Handy an einen Termin erinnert zu werden. Die Geschichte wirft viele interessante gesellschaftliche und ethische Fragen auf. Auf wessen Empfehlungen vertrauen wir im Leben? Sind Empfehlungen, die auf der Auswertung realer Daten beruhen, sinnvoller als solche, die aus dem Bauch heraus getroffen werden? Was kann künstliche Intelligenz und wer steuert sie? Jeder Handlungsempfehlung liegt eine Bewertung der Situation zugrunde. Welches Wertesystem steht dahinter und wer bestimmt es? Was ist der „perfekte Mensch“ und ist ein solcher eigentlich möglich und wünschenswert? Wo verläuft die Grenze zwischen Optimierung und Selbstausbeutung? Ist jeder, der das Ting nicht nutzt, schuld an allem Ungemach, das ihm im Leben widerfährt, weil er es hätte verhindern können?

Mich hat dieser spannende Roman gepackt und nicht mehr losgelassen, gerade weil das Szenario so real ist. Die Charaktere sind ausdifferenziert und sehr glaubwürdig. Besonders gefallen hat mir die Figur Niu. Endlich mal eine Frau als Programmiererin! Ihre Sensibilität ist anrührend, ihre Klugheit erfrischend. Große Leseempfehlung!

Ein packender Roman mit gesellschaftlicher Brisanz, Tiefe und interessanten Charakteren, ein sehr gelungenes Debüt. Bitte mehr davon!

Das Ting, Artur Dziuk, bold im dtv-Verlag, München 2019, 464 Seiten, 18,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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