Dienstag, 15. Oktober 2019

Ein Baum wächst in Brooklyn, Betty Smith

Dieses zauberhafte Buch wurde erstmals auf Englisch im Jahr 1943 veröffentlicht und hat sich seitdem zu einem Klassiker entwickelt. Die Geschichte beginnt in Brooklyn, New York 1912. Der Roman zeichnet mit vielen Details das Bild dieses großen Stadtteils von New York vor dem 1. Weltkrieg, als viele Arbeiter und europäische Einwanderer dort lebten, manche mehr schlecht als recht.


Erzählt wird die Geschichte von Francie, einem sensiblen elfjährigen Mädchen, das eine große Beobachtungsgabe hat. Sie lebt mit ihrem Vater, der ein singender Kellner ist, ihrer Mutter, die als Hausmeisterin und Putzfrau arbeitet, und ihrem jüngeren Bruder Neeley in den typischen Brooklyner Mietshäusern mit Feuertreppe. Francie ist fasziniert, als sie in der Schule lesen lernt. Sie nimmt sich vor, ab sofort jeden Tag ein Buch zu lesen. Die Bücher leiht sie in der öffentlichen Bibliothek aus und liest sie in alphabetischer Reihenfolge, wie sie eben dort stehen.

„Eine ganze Weile lang hatte Francie einzelne Buchstaben gesprochen und dann die Laute zu einem Wort verbunden. Eines Tages aber schaute sie auf eine Seite, und sofort hatte das Wort „Maus“ eine Bedeutung. Sie betrachtete das Wort, worauf ihr das Bild einer grauen Maus durch den Kopf lief. Sie schaute weiter, und als sie das Wort „Pferd“ sah, hörte sie, wie es mit den Hufen auf der Erde scharrte, und sah die Sonne auf seinem glänzenden Fell schimmern. (…) Sie las schnell ein paar Seiten, und ihr wurde vor Aufregung fast übel. Sie wollte es hinausschreien. Sie konnte lesen! Sie konnte lesen!“ (S. 211)

Das Leben ist hart, oft hungert und friert die Familie. Aber im Sommer gibt es nichts Schöneres für Francie, als mit ihrem Buch auf der Feuertreppe zu sitzen, die vom grünen Blätterdach eines Baumes eingehüllt ist. Das ist wie eine grüne Höhle.

Der Baum im Hof ist ein Sinnbild für Francies karges Leben. Der Baum wächst aus dem asphaltierten Boden, wo eigentlich gar nichts wachsen kann. Er wird nicht gegossen oder gedüngt. Einmal wird der Baum sogar abgeschlagen, aber selbst aus dem Strunk wächst ein neuer Baum empor. Da wo andere nur Alltagsgrau sehen, sieht das phantasievolle Mädchen kleine Flecken von Schönheit. In der Leihbücherei gibt es einen Krug, in dem stets frische Blumen stehen. Niemand außer Francie scheint die Blumen zu beachten, aber ihr machen sie Freude.

Es dämmert Francie, dass Bildung der einzige Weg ist, aus dem Teufelskreis der Armut zu entkommen, in dem die Eltern jeden Penny sparen und von einem Wochenlohn zum nächsten leben müssen. Aber wie bekommt man Bildung, wenn die Eltern keine haben? Wenn das Geld so knapp ist, dass jede Hand zum Geldverdienen gebraucht wird?

Schulbildung ist nicht das einzige, aus dem Francie lernt. Das Leben und ihre Beobachtungsgabe lehren sie auch sehr viel. Während sie aufwächst, erkennt Francie mehr und mehr das Wesen der Menschen, die sie umgeben. Warum handelt die Mutter so, ihre Tante anders, wie verhält es sich zwischen Männern und Frauen, womit kalkulieren die Händler und Geschäftsleute im Viertel?

Obwohl Armut, Elend und Schicksalsschläge in der Geschichte beschrieben werden, habe ich den Roman nicht als traurig empfunden, sondern als ermutigend. Francie geht ihren Weg trotz aller Widerstände. Sie ist ein liebenswertes, mitfühlendes, aber isoliertes Mädchen mit viel Phantasie. Die Erzählweise ist langsam und zart. Man hört den Lärm auf dem Kopfsteinpflaster, riecht Kohlen und Schmutz, sieht die Sonne auf den Blättern des Baumes tanzen – die damalige Welt in Brooklyn wird sehr lebendig in der Erzählung. Die Charaktere sind lebhaft gezeichnet, auch in ihrer Veränderung, während wir in der Rückblende bis vor Francies Geburt zurückblicken und Francies Aufwachsen bis zur Pubertät miterleben.

Ein Coming-of-age-Roman der besten Sorte, liebevoll und detailreich erzählt, zu Recht ein Buch, das Generationen begeistert hat.

Ein Baum wächst in Brooklyn, Betty Smith, aus dem amerikanischen Englisch von Eike Schönfeld, Insel Verlag, Berlin 2018, 622 Seiten, 12,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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