Mittwoch, 3. Juli 2019

Junger Mann, Wolf Haas

Wenn er an der Tankstelle „junger Mann“ genannt wird, ist das schon ein Gewinn. Besser als wenn man ihn „Fräulein“ ruft, auch wenn er dann für das Scheibenputzen meistens mehr Trinkgeld bekommt. Unser Antiheld ist noch keine vierzehn Jahre alt, etwas pummelig und wohnt in den 1970er Jahren in einem österreichischen Kaff nahe des deutschen Ecks. Sein Vater ist in der Hauptstadt in der Irrenanstalt, weil er säuft und alles Geld verspielt. Seine Mutter ist auch irgendwie verrückt und geht dem Erzähler erheblich auf die Nerven. In den Internatsferien verdient er, der einzig Normale in der Familie, sich an der Tankstelle ein Taschengeld.

Seine Welt verändert sich, als er beim Scheibenputzen auf diese wahnsinnig schöne Frau auf dem Beifahrersitz aufmerksam wird. Sie sitzt im Auto von Tscho, einem örtlichen Lkw-Fahrer. Unser Held beschließt, dass er eine Abmagerungskur machen wird, bevor er sich ernsthaft um die Elsa bemühen kann. Dann wird es wohl nicht mehr so ins Gewicht fallen, dass sie ein bisschen zu alt und ein bisschen zu verheiratet für ihn ist, oder?

Im nächsten Moment fand ich meinen Lebensmut wieder. Ich sagte mir, mit der Waage müsse etwas nicht stimmen. Vielleicht war sie verstellt. (…) Einer war aus dem Internat geschmissen worden, weil er ein interessantes Buch namens Kamasutra eingeschmuggelt und nicht gut genug versteckt hatte. Ähnlich komplizierte Stellungen nahm ich auf der Badezimmerwaage ein. (…), bis ich bei immer akrobatischeren Schräglagen schließlich von der Waage fiel. Doch mein gesamtes Badezimmerwaagenkamasutra brachte nichts. Am ehesten noch 94 Kilo. (S. 20/21)

Mit eiserner Disziplin schiebt der Erzähler Kohldampf, schwingt sich aufs Rad und lernt Kalorientabellen auswendig. In herrlichem Dialekt lässt er uns teilhaben an seinen Gedanken, die ständig um Elsa kreisen und um das Erwachsenwerden. Obwohl Tscho eigentlich sein Rivale ist, kommt er diesem näher, als der ihn mit auf eine Fahrt mit dem Lkw nach Thessaloniki nimmt. Tscho ist schweigsam beim Fahren. Umso erstaunlicher ist es, welche bedeutenden Dinge die beiden dennoch während der Fahrt austauschen. Kann es sein, dass der Erzähler doch nicht nur wegen seiner Englischkenntnisse mitfahren sollte?

Der namenlose Erzähler ist ein nachdenklicher, gescheiter und feinfühliger Junge, dabei ein Pechvogel. Er macht sich über seine Popularität bei Frauen keine Illusionen. Aber er hat einen Traum: Er will abnehmen und die Elsa für sich begeistern. Deshalb hat er auch viel Verständnis für die Träume der anderen. Er möchte niemanden bloßstellen, versucht hilfreich zu sein und seine Mutter so gut es geht zu ertragen. Etwa ab der Hälfte des Buches geht er auf einen Roadtrip mit Tscho, der ihm die Welt öffnet, eine Coming-of-age-Story.

Die wohl teilweise autobiografisch gefärbte Geschichte hat einen lockeren Tonfall, ist unterhaltsam und nötigt dem Leser Respekt ab für diesen Jungen, der es irgendwie schafft in diesem langweiligen, nervtötenden und peinlichen Leben in der Provinz. Ich habe diesen Antihelden jedenfalls sofort ins Herz geschlossen. Der Roman hat mir sehr gefallen.

Eine mutmachende Geschichte vom Erwachsenwerden und davon, seinen Traum zu leben.

Junger Mann, Wolf Haas, Hoffmann und Campe Verlag, Hamburg 2018, 240 Seiten, 22,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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