Samstag, 9. März 2019

Sandbergs Liebe, Jan Drees

Das Leiden, das zwei Menschen über einander bringen können, ist so unbeschreiblich groß, wie die Liebe sein könnte, die sie teilen könnten. Und meist finden sich zwei, die zueinander passen wie der Schlüssel zum Schloss. „Sandbergs Liebe“ handelt von einer Höllenfahrt, die eine Beziehung zweier hoch verletzlicher und verletzter Menschen bedeutet.

Kristian Sandberg, ein Mann in den Dreißigern, trifft Kalina über eine Dating-App. Er ist fasziniert von der schönen Dänin, die im Beruf als Zahnärztin erfolgreich ist und ein exklusives Leben in Hamburg-Winterhude führt. Schon am ersten Tag ihrer Bekanntschaft passiert jedoch etwas, dass ihn daran denken lässt, den Kontakt zu dieser Frau sofort wieder abzubrechen. Sie lässt ihn stundenlang sitzen und scheint ihre Worte von vor wenigen Stunden bereits völlig vergessen zu haben. Das ist das erste große Stoppschild, das Kristian überfährt. Denn er schreibt und trifft sich weiter mit ihr. Kalina macht auf ihre Verletzlichkeit aufmerksam, bittet um Achtsamkeit im Umgang. Aber gleichzeitig stehen ihre Interessen und Bedürfnisse stark im Vordergrund. Ihr Interesse an Kristians Welt als Literaturagent scheint gering. Aber das entschuldigt Kristian im Rausch der Verliebtheit, die nun einsetzt. Er trifft ihre Freunde, möchte in ihrem Kreis angenommen sein. Er macht mit bei exklusiven Einkaufstrips und teuren Reisen, die eigentlich über seine Verhältnisse gehen.

Die Nähe, die zwischen Kalina und Kristian entsteht, wird schnell sehr groß. Beide suchen den Mann / die Frau fürs Leben, bei dem man sich endlich geborgen und beschützt fühlt.

„Vierundzwanzig Stunden sind seit dem zweiten Date vergangen, und weil mir mein Chef für den nächsten Tag freigegeben hat, fahre ich am Donnerstagnachmittag los Richtung Dänemark. (…) ‚Du darfst nie wieder gehen‘, hatte Kalina gestern am Telefon zu mir gesagt, ‚ab jetzt bist du unverzichtbar.‘“ (S. 51)
„Die zahlreichen Partys und Konzerte, die wild plakatiert angekündigt sind und in den kommenden Wochen in Hamburg stattfinden, sind plötzlich möglich. Alles strahlt sommerhell. (…) Noch einmal ausbrechen. Noch einmal feiern. Danach werden wir gemeinsam ein ruhiges Leben führen. Bald. Ganz bald. Dennoch, obwohl die Rettung sichtbar wird, machen mich die Ereignisse der vergangenen Wochen nervös. Es ist keine Furcht vor Kalina, sondern eine Furcht vor mir selbst, die Sorge, ob ich es schaffen werde, die Erwartungen an mich zu erfüllen. Eigentlich bin ich nicht gut genug für diese Frau.“ (S. 63)

Schon nach wenigen Wochen planen sie nicht nur die gemeinsame Wohnung, sondern sprechen von Heirat und Familiengründung. So oft in der großen Münze des Bundes fürs Leben gesprochen wird, so oft führen die beiden auch den Abbruch der Beziehung im Munde. Denn ähnlich wie am ersten Tag ihrer Bekanntschaft geht es weiter mit Verletzungen, enttäuschten Erwartungen und Vorwürfen. Kalina nimmt Anstoß an völlig harmlos gemeinten Bemerkungen und Handlungen Kristians, nimmt Situationen völlig anders wahr, was Kristian, der das Beste will, in die Verzweiflung treibt.

Im Laufe des Romans erfährt der Leser Bruchstücke aus der Kindheit und Beziehungserfahrung beider Partner. Kalinas Schwester leidet an einer Boderline-Persönlichkeitsstörung. Und mehr und mehr drängt sich dem Leser der Eindruck auf, dass Kalina ebenfalls daran erkrankt ist. Anders ist ihr manipulatives Verhalten, das zwischen absoluter Nähe und Wegstoßen pendelt, kaum zu erklären. Kristian fühlt sich als Opfer einer Form von emotionaler Beziehungsgewalt, die als „Gaslighting“ bekannt ist (auch wenn dieser Begriff im Roman nicht gebraucht wird).

Zweifellos ist Gaslighting dazu geeignet, jeden halbwegs normalen Menschen in kürzester Zeit buchstäblich in den Wahnsinn zu treiben, da er ständig in seiner eigenen Wahrnehmung der Dinge verunsichert wird. Aber da ist noch eine Ebene. Denn wo ein Schlüssel ist, ist oft auch ein passendes Schloss. Kristian erkennt zwar irgendwann, wie desolat sein Zustand in dieser Beziehung ist. Es scheint ihm aber verborgen zu bleiben, dass er aufgrund seiner eigenen Geschichte von Anfang an ein besonders leichtes Opfer für derartiges Verhalten war. Schon zu Anfang des Romans nimmt er regelmäßig Antidepressiva, ist emotional angeschlagen und hat ein von Grund auf erschüttertes Selbstgefühl. Viel zu schnell projiziert er viel zu viel in diese Beziehung, wirft sich hinein und drückt alle Anzeichen von Gefahr weg, so dass man ihm des Öfteren zurufen möchte, „Wehr dich! Grenz dich ab! Mach das nicht mit!“. Die Frage stellt sich, ob Kristian vielleicht schon vor dieser Beziehung an mehr als einer Depression gelitten hat, an den Folgen einer komplexen Traumatisierung, die möglicherweise auch bis in den Bereich einer Persönlichkeitsstörung reicht.

Das Thema dieses – teils autobiografischen - Romans ist wichtig. Es ist wichtig öffentlich darüber zu sprechen, dass es emotionale Gewalt in Beziehungen gibt, deren Opfer Männer genauso wie Frauen sein können. Es ist ebenso wichtig über psychische Erkrankungen wie Borderline, Depression und die Folgen von Traumatisierung zu sprechen, die viel zu oft in ihrer Tragweite nicht erkannt und viel zu selten kompetent behandelt werden. Hätte der Protagonist Kristian sich früher medizinische Hilfe geholt, wäre ihm das Desaster dieser Beziehung möglicherweise erspart geblieben.

Eine völlig andere Frage ist jedoch, ob „Sandbergs Liebe“ ein gut geschriebener Roman ist. Ich muss an dieses Buch leider den Preis für den schlimmsten Eröffnungssatz eines Romans aller Zeiten vergeben:

„Kalinas Antwort auf Kristian Sandbergs Frage, welches ihr Lieblingsbuch sei, verrät das Unheimlichste über sein Verschwinden wenige Monate nach dem viel zu heißen Spätsommer des Jahres 2016, in dem Paul Kalkbrenner vor siebzigtausend Besuchern die Headliner-Show auf dem Lollapalooza-Festival in Berlin gespielt hatte – bei Temperaturen knapp unter dreißig Grad, lange nach Einbruch der Dunkelheit.“ (S. 7)

Hätte ich dieses Buch zufällig in einer Buchhandlung entdeckt und diesen Satz gelesen, hätte sich für mich jedes Weiterlesen erübrigt. Insbesondere der Anfang des Romans erscheint sprachlich extrem holperig und zerfahren. Es kommt kein Fluss in den Text. Erst als auf Seite 27 die Vorgeschichte vorüber ist und die Geschichte in Richtung Kennenlernen von Kalina steuert, bekommt die Erzählung zusammenhängenden Zug. Sprachlich besteht ein solcher Bruch für mich, dass ich diese Vorgeschichte eher weggelassen hätte. Sie ist am ehesten ein Bild für den gebrochenen Zustand, in dem Kristian in die Beziehung zu Kalina hineingegangen ist, aber extrem anstrengend zu lesen. Ich bin eine geübte Vielleserin, aber im ersten Teil musste ich auf jeder Seite mehrfach anhalten und Sätze zwei- bis dreimal lesen. Auch danach empfand ich den sprachlichen Stil als gewollt literarisch, mit zu komplizierten Worten, die für die Handlung nicht notwendig waren. Allerdings ist der Protagonist Kristian – wie der Autor Jan Drees selbst – beruflich im Literaturbetrieb beheimatet, was dadurch möglicherweise ausgedrückt werden sollte.

Ein Buch wie sein Cover – grau und bleischwer – zu einem sehr wichtigen Thema.

Sandbergs Liebe, Jan Drees, Secession Verlag für Literatur Zürich 2019, 190 Seiten, 20,00 EUR

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