Ich hatte die Netflix-Serie nicht gesehen und für Schach interessiere ich mich auch nicht. Dennoch hat mich dieses phantastische Buch fasziniert, eingesogen und hält mich immer noch in seinem Bann. Es wurde erstmals 1983 veröffentlicht und jetzt erstmals ins Deutsche übersetzt.
Die Geschichte beginnt in den 1950er Jahren in Kentucky, USA, wo die kleine Beth Harmon mit acht Jahren zur Waise wird. Das Leben mit ihrer intelligenten, aber seltsamen (verrückten?) Mutter war nicht einfach. Aber als Beth in ein Waisenhaus kommt, wird es noch schlimmer. Sie muss in einem großen Schlafsaal mit anderen Mädchen schlafen, wo es schwer ist, nachts zur Ruhe zu kommen. Ohnehin scheint es dem Personal weniger um die Förderung der Kinder zu gehen, als darum sie ruhig zu stellen. Jedes Kind bekommt täglich Beruhigungspillen. Beth bemerkt schnell, welchen Effekt diese erzeugen, wenn man sie ein paar Tage aufspart und dann mehrere auf einmal nimmt.
Im Keller entdeckt Beth, dass der Hausmeister ein seltsames Brettspiel gegen sich selbst spielt: Schach. Immer wieder stiehlt sie sich heimlich davon und bringt den Hausmeister schließlich dazu, ihr das Spiel beizubringen. Schnell wird sie besser als er.
Beth wird schließlich adoptiert, doch auch in der neuen Familie herrschen keine rosigen Verhältnisse. Aber Beth spielt weiter Schach. Sie hat nicht einmal ein Schachbrett, aber sie spielt in ihrem Kopf und macht schließlich ihr erstes Schachturnier mit. Eine steile Karriere beginnt, in der Beth oft als jüngste und als einziges Mädchen lauter Männer besiegt. Wen sie nicht besiegt, sind die Beruhigungstabletten und später der Alkohol.
"... Was ist deine Wertungszahl?"
"Ich habe keine."
"Hast du schon mal an einem Turnier teilgenommen?"
"Nein."
Der Mann deutete auf Beths Geld. "Willst du wirklich mitmachen?""Ja."
"Einen Frauenwettbewerb haben wir aber nicht."
Sie schaute ihn nur an."Ich setze dich zu den Anfängern."
"Nein", protestierte Beth, "ich bin keine Anfängerin." (S. 110)
Man muss nichts von Schach verstehen, um dieses Buch zu lieben. Psychologisch ausgefeilt und sehr empathisch wird Beth beschrieben, die unter prekären Umständen und Lieblosigkeit zu leiden hat, aber dennoch ihren Weg geht. Sie weiß, was sie will. Und das tut sie. Ihre Schachspiele werden spannend wie Verfolgungsjagden geschildert. Das eine sind die speziellen Schachtaktiken, das andere sind die Nerven, die es braucht, um bei stundenlangen Partien zu gewinnen. Lässt man sich einschüchtern, wenn der Gegner so viel älter und seit Jahren ein Großmeister ist? Kann man dem Gesicht des Gegners ein Zeichen von Schwäche ansehen? Die beeindruckende kognitive Leistung, die Spitzenschachspieler vollbringen, wird deutlich. Es ist wunderbar mitanzusehen, wie Beth ihre Fähigkeiten entwickelt und unerschrocken ihren Weg geht. Gezielt sucht sie Schachturniere mit hohen Preisgeldern aus, um sich aus der Armut zu befreien. Denn sie liebt schöne Kleider. Sie will raus aus Waisenhausuniform und Sonderangebotskleidung, welche die Adoptivmutter ihr kauft. Was sie allerdings nicht kaufen kann, sind echte Freunde. Sind die anderen Schachspieler nicht alle nur Nerds? Wollen sie nur mit Beth ins Bett oder kann man einem von ihnen vielleicht vertrauen?
Ein fulminantes Leseerlebnis mit reichlich Tempo, das mich in der Schachwelt versinken ließ. Die Serie ist ok, kann aber mit dem Buch nicht mithalten. Ich gebe zu, dass ich mir ein eigenes Schachbrett kaufen musste und am Schluss des Buches beinahe zurück auf Seite 1 gesprungen wäre, um es sofort noch einmal zu lesen.
Das Damengambit, Walter Tevis, aus dem Amerikanischen übersetzt von Gerhard Meier, Diogenes Verlag, Zürich 2021, 414 Seiten, 24,00 EUR
(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)
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