Montag, 30. Dezember 2019

Die Kakerlake, Ian McEwan

Der Brexit bewegt die Gemüter seit Langem. Nach dem Referendum hat sich so mancher fassungslos an den Kopf gefasst und sich gefragt, wie es soweit kommen konnte. Nach dem Hickhack der letzten Monate fragt man sich das umso mehr. Die Antwort hat Ian McEwan nun gefunden: Es liegt an den Kakerlaken!

Ihr kennt sicher „Die Verwandlung“ von Franz Kafka. Ein Mann wacht morgens auf und stellt fest, dass er zum Käfer geworden ist. In Großbritannien war es genau umgekehrt.
„Als Jim Sams, klug, doch beileibe nicht tiefgründig, an diesem Morgen aus unruhigen Träumen erwachte, fand er sich in eine ungeheure Kreatur verwandelt. Eine Weile blieb er auf dem Rücken liegen (nicht gerade seine bevorzugte Stellung) und betrachtete verwundert die fernen Füße, die wenigen Gliedmaßen.“ (S. 11)
Eben noch eine Kakerlake, findet sich Jim Sams in einem menschlichen Körper wieder. Wer ist Jim Sams? Nun – der britische Premierminister. Und genaugenommen nimmt der Roman das Wort Brexit auch gar nicht in den Mund. Vielmehr versucht Jim Sams in seinem Land eine ganz neue Wirtschaftsordnung zu etablieren, zur Not eben im nationalen Alleingang. Wenn nur das Parlament nicht wäre…

Ian McEwan hat eine Satire auf das Brexit-Chaos und zugleich eine Hommage an Kafka geschrieben. Denn Schreiben ist wohl das Einzige, was einem Schriftsteller übrig bleibt, wenn sein Land vom Wahnsinn geflutet wird. Alle Namen und Personenbeschreibungen sind natürlich abgewandelt. Dennoch erkennen wir genau, wer Boris Johnson, Emmanuel Macron und Donald Trump darstellen soll. Die Geschichte hat ihre eigene Logik, so dass am Schluss tatsächlich alles einen Sinn ergibt. Für den deutschen Leser ist es ein zusätzliches Schmankerl, dass der Nachname des fiktiven britischen Premierministers einer frechen Kinderbuchfigur mit blauen Punkten im Gesicht gleicht. Wer von beiden das höhere geistige Niveau aufweist, lasse ich hier dahinstehen.
„Bestimmt gab es bei den Griechen ein Wort dafür, wenn jemand gegen das ureigenste Interesse handelte. Und in der Tat, das gab es. Akrasia. Perfekt. Das Wort machte die Runde.“ (S. 112)
Das dünne Buch liest sich kurzweilig und könnte lustig sein, wenn die Groteske nicht so furchtbar dicht an der Realität wäre. Eine bessere Erklärung für die Vorgänge in Großbritannien als diesen Roman habe ich jedenfalls noch nirgends gehört.

Hoch aktuell und lesenswert!

Die Kakerlake, Ian McEwan, aus dem Englischen von Bernhard Robben, Diogenes Verlag, Zürich 2019, 144 Seiten, 19,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags. Ich danke dem Verlag für das kostenlos zur Verfügung gestellte Rezensionsexemplar.)

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