Sonntag, 2. Juni 2019

Waldes Dunkel, Nicole Krauss

Zwei skurrile Geschichten zwischen New York und Tel Aviv entspinnen sich in diesem Roman, jeweils kapitelweise abwechselnd. Die Geschichte des wohlhabenden, jüdischen Rechtsanwalts Jules Epstein wird in der dritten Person erzählt. Nachdem er sein Leben mit dem Anhäufen von Vermögen verbracht hat, erscheint ihm das Gegenteil erforderlich zu sein, nachdem seine Eltern verstorben sind. Selbst bereits Ende sechzig und im Ruhestand beschließt Epstein, große Teile seines Vermögens zu verschenken. Auch seinen Eltern möchte er ein Andenken setzen. Um hierfür das Passende zu finden, etwa eine Stiftung oder ähnliches zu gründen, macht Epstein sich nach Israel auf, wo er geboren wurde. Soll er vielleicht zu Ehren seiner Eltern die Aufforstung eines Waldes stiften? Ihm begegnet ein Rabbiner, der ihn zu den Mystikern in Safet mitnimmt. Dort ergeben sich weitere schicksalhafte Begegnungen.

Parallel dazu erzählt uns die in Brooklyn lebende jüdische Schriftstellerin Nicole, die der Buchautorin ähnelt, ihre Geschichte. Sie ist innerlich fixiert auf das Hilton Hotel am Strand von Tel Aviv, das sie schon oft besucht hat, und welches auch in ihrem neuen Roman eine Rolle spielen soll. Leider hat sie noch keinen Satz von diesem Werk geschrieben. Sie lässt Ehemann und Kinder in New York und fliegt nach Tel Aviv. Ihre Schwäche für Franz Kafka zieht sich durch die ganze Erzählung. Er selbst erscheint ihr. Ferner begegnet ihr ein (angeblicher?) Literaturwissenschaftler mit Zugang zu einer abenteuerlichen Theorie über Kafkas Ableben und dessen unveröffentlichtes Werk. Es ist insbesondere das Innenleben der Autorin, das rätselhaft erscheint, obwohl auch die äußere Handlung teilweise schwer nachvollziehbar wirkt.
„Die Idee, an zwei Orten zugleich zu sein, begleitet mich schon lange. Solange ich mich erinnern kann, sollte ich sagen, denn eine meiner frühesten Erinnerungen ist die an eine Kindersendung im Fernsehen, bei der ich mich plötzlich selbst in dem kleinen Publikum im Studio entdeckte.“ (S. 58)
„Ich war ich selbst, fühlte mich völlig normal in meiner Haut, und doch hatte ich gleichzeitig das plötzliche Gefühl, nicht mehr auf meinen Körper beschränkt zu sein, (…) Nicht als Seele oder Schwingung. Sondern mit dem ganzen Körper, (…).“ (S. 60)
Das Buch enthält philosophische Lebensreflexionen der beiden Charaktere, Gedanken über das Wirkliche und das Unwirkliche, die Grenzen zwischen Diesseits und Jenseits, die An- oder Abwesenheit von Gott und verschiedene Formen der Realität. Es bleibt verschwommen, welche Teile der Handlung wirklich geschehen und welche vielleicht nur im Geiste erlebt werden. Die Geschichten spielen sich in der jüdischen Gesellschaft New Yorks und Israels ab, deren Eigenarten werden geschildert. Die Besonderheit Israels im jüdischen Leben wird beleuchtet.

Dieser skurrile Roman lässt mich etwas perplex zurück. Er liest sich flüssig und nicht unspannend, sofern man sich auf die mystische, spirituelle Ebene einlässt, die Teil des Alltagserlebens der Handelnden ist. Geholfen hat vielleicht, dass ich an allen Orten des Geschehens schon gewesen bin und die geheimnisvolle Atmosphäre des hoch gelegenen Safet selbst erlebt habe. Als Literaturbegeisterte kann ich nachvollziehen, wie sich die erzählende Autorin in Kafkas Werk versenkt. Dessen Begriff der Verwandlung spielt für sie eine große Rolle. Aber es bleibt eine fremdartige Welt, die ich nur von außen mit Verblüffung betrachten kann.

Kein Buch für jeden, aber auf jeden Fall mal etwas ganz anderes!

Waldes Dunkel, Nicole Krauss, aus dem Englischen von Grete Osterwald, Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2018, 382 Seiten, 24,00 EUR

(Die Verwendung des Coverbildes erfolgt mit freundlicher Erlaubnis des Verlags.)

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