Mittwoch, 27. Februar 2019

Vorab-Publikation: Der ungefähre Arsch, Judith Gavenny

Im Regenwald

Wenn Frau Borgfeld aus dem ersten Stock nicht wäre, wäre es still in der Wohnung. Fast still. So still jedenfalls, dass man die Küchenuhr ticken hören könnte. Hören könnte, wie die Zeit vergeht, seit Mascha Jan geschrieben und keine Antwort erhalten hat und wahrscheinlich auch keine Antwort mehr erhalten wird.

Aber bei Frau Borgfeld unten geht viel zu laut der Fernseher: In der Spielshow werden Wörter geraten, von denen immer neue Konsonanten erscheinen. Mascha kennt das Spiel: Das Rad mit den Geldbeträgen dreht sich, bis es bei einem Betrag stehenbleibt. Jemand nennt einen Konsonanten dazu, und die entsprechenden Felder leuchten auf: ping! Konsonant für Konsonant wird immer deutlicher, welches Wort gesucht wird. Irgendwann wird klar sein, um welchen Begriff es sich handelt, irgendwann wird jeder erkennen müssen, was Sache ist.

Mascha ist allein, niemand sonst ist da. Pauli nicht, Paulis Freund nicht, niemand. Jan auch nicht. Vor allem Jan ist nicht da. Jan ist so sehr nicht da, dass er den ganzen Raum füllt, den die anderen frei gelassen haben in der Wohnung und in Maschas Kopf.

Jans Nuss-Nougatcreme im Kühlschrank. Die Messerspuren darin. Wer stellt bitte Nuss-Nougatcreme in den Kühlschrank? hat Pauli gesagt, die die Nuss-Nougatcreme gar nicht erst kauft, wegen des Palmöls darin, das die Regenwälder zerstört. Am liebsten hätte Pauli die Nuss-Nougat-Creme weggeworfen, aber das hat sie nicht gedurft, weil Jan sie gekauft hat. Also ist die Nuss-Nougatcreme im Kühlschrank geblieben; von ganz hinten links schaut sie über die Margarine hinweg, den Scheibenkäse, die vegetarischen Aufstriche und ist schuld daran, dass die Regenwälder in Malaysia abgeholzt werden und die in Indonesien auch. Man öffnet den Kühlschrank, man sieht die Nuss-Nougatcreme, und man hört das Dröhnen der Motorsäge, wie sie sich in das edle tropische Holz frisst. Man hört es und man kneift die Augen zusammen, weil es so unendlich wehtut. Jedes Mal, wenn man den Kühlschrank öffnet, tut es so unendlich – ver-dammt – noch – mal – weh.

Jans Buch auf dem Beistelltisch. Das Kartenspiel von Jan zu Weihnachten. Jans zerknülltes Taschentuch unter dem Bett neben den Wollmäusen. Miteinander einzuschlafen, denkt Mascha. Das ist ganz anders als miteinander zu schlafen.

Schmeiß den Scheiß weg, hat Pauli gesagt. Alles. Nur so kann das gehen. Das Glas mit der Nuss-Nougat-Creme. Die Taschentücher, das Buch, das Kartenspiel. Fahr nicht mehr durch die Straße, in der er wohnt; was hast du da zu suchen? Lies nicht mehr seine alten E-Mails. Lösch sie am besten. Ruf nicht mehr seine Homepage auf.
Denken Sie nicht an einen rosa Elefanten.
Mascha fährt den Computer hoch. 
Jans Homepage lädt. Mit allen Kategorien: Mathematik. Programmieren. Fotografie. Projekte. Forschung. Musik. Seine Interessen und Fähigkeiten. Jan weiß so viel, Jan kann so viel.
Ganz unten der kleine Bereich: „Und das bin ich – Jan.“

Das Bild darunter ist neu. Ganz langsam baut es sich auf: Jans dunkles Haar, die hohe Stirn. Pixel für Pixel. Die Verbindung ist schlecht. Aber die wird wieder besser, denkt Mascha. Ganz bestimmt wird die Verbindung wieder besser, irgendwann. Jans linke Augenbraue, er hält den Kopf schräg. Das Bild ist breit, viel breiter als Jans Kopf. Jans Kopf ist ziemlich schmal, eigentlich.
Warum ist das Bild so breit?
Als Nächstes: Jans Wimpern. Jan hat schöne Wimpern, lang und dicht. Ein braunes Auge. Ein zweites dazu.

Und dann, ein Stück weiter links, ganz am Bildrand: etwas Helles. Haare. Blonde Haare. Ein geschlossenes Auge, das nicht zu Jan gehört. Eine Nase, die Jans rechte Schläfe berührt. Lippen, die Jans rechte Wangen berühren. Haut an Haut. Jans Mund, der lächelt. Jans geöffnete Augen, die geweiteten Pupillen.
Die Bildunterschrift dazu: Mein schönstes Hobby – Lena!

Kaffee, der Mascha in den Schoß läuft, aus der umgekippten Tasse heraus. Der sich in den Jeansstoff saugt.
Maschas Atem, der stockt. Ihr Herz, das stillsteht.
Der Kaffee, der weiterläuft und auf den Dielenboden tropft.

Das Rad mit den Konsonanten, das sich immer weiterdreht. Gleich dreimal leuchten bei Frau Borgfeld die Buchstabenfelder auf: ping – ping – ping.
Die Welt steht nicht still, das Glücksrad steht nicht still, nicht mal Maschas Herz steht mehr still: Das hat jetzt auch wieder eingesetzt, ebenso wie ihr Atem. Es stirbt sich nicht so leicht mal eben. Die Regenwälder in Malaysia und in Indonesien, die sind ja auch nicht von jetzt auf gleich weg. Selbst wenn hundert Waldarbeiter gleichzeitig mit hundert Motorsägen die Stämme bearbeiten, dass es einem das Trommelfell zerreißt und alles andere noch dazu – die Regenwälder sind groß, das dauert noch. Jahrelang, jahrzehntelang werden die Motorsägen heulen, was kann man da bloß machen? Nichts kann man da machen, außer sich ins Bett zu legen und sich das Kissen über den Kopf zu ziehen und daran zu denken, dass es unendlich viele Primzahlen geben muss.

Denn wenn das nicht so wäre, dann gäbe es eine Primzahl, die die größte und letzte aller Primzahlen wäre auf der Welt. Und die könnte man dann multiplizieren mit allen anderen Primzahlen, die es sonst noch so gibt. Ausnahmslos mit allen. Und dann könnte man eins dazuzählen und hätte somit eine Zahl, die durch keine dieser Primzahlen teilbar wäre und deswegen wiederum eine Primzahl sein muss, die noch größer ist als die bisher größte Primzahl. Und damit hätte man dann festgestellt, dass das ja alles gar nicht sein kann.

Das kann ja alles gar nicht sein, denkt Mascha. Wir sind doch ein ganzes Stück zusammen gegangen, Jan und ich. Aber dann bin ich falsch abgebogen. Wo bin ich bloß falsch abgebogen?

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Buch-Lady.de veröffentlicht exklusiv erstmalig diesen Ausschnitt aus dem noch nicht publizierten Roman "Der ungefähre Arsch". Alle Rechte an obigem Text liegen bei der Autorin Judith Gavenny (Pseudonym von Meike Stewen).

Kurz-Bio der Autorin: Meike Stewen, geboren 1970, liebt die fremden Stimmen in Bussen und Cafés und die eigenen Stimmen im Kopf. Da zu sitzen und zu lauschen und dabei zu stricken: Pullis und Chamäleons aus Wolle. Oder dabei zu schreiben: Kurzgeschichten und Romanfetzen aus Wörtern, am liebsten bei einem Milchkaffee. Ihr Geld für Kaffee, Wolle und Stricknadeln verdient sie als Texterin und Übersetzerin und als Redakteurin für eine Teppich-Fachzeitschrift, in der es auch oft um Wolle geht. Mit ihrem Mann lebt sie in Hamburg.
Kontakt zur Autorin: mascha(at)hamburg.de

1 Kommentar:

  1. Ein schönes Interview mit einer wunderbaren Autorin. Vielen Dank dafür und vielen Dank für diese sehr vielversprechenden Vorab-Publikation. Ich habe sie verschlungen. :-)

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